
Das leere Sprechzimmer
Die Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM) hat 2019 „Das leere Sprechzimmer“ als Erinnerungsort für die verdrängten, verfolgten und getöteten Menschen in und aus den Sprechzimmern praktischer Ärzt*innen zu Zeiten des Nationalsozialismus ins Leben gerufen. Das Berliner Institut hat auf Anregung der DEGAM-Kongressleitung in Lübeck (Prof. Dr. Jost Steinhäuser et al.) die Umsetzung des Projektgedankens für den jährlichen DEGAM-Kongress als Film realisiert.
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Das leere Sprechzimmer
„Das leere Sprechzimmer“ erinnert in sechs Kurzfilmen an die im Nationalsozialismus in Deutschland verfolgten, vertriebenen und ermordeten jüdischen praktischen Ärzt*innen. Das als Dauer- und Wanderausstellung geplante Projekt wird mit wechselnden Schwerpunkten auch auf zukünftigen DEGAM-Kongressen zu sehen sein.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 wurden jüdische und politisch andersdenkende praktische Ärzt*innen schrittweise aus ihren Sprechzimmern vertrieben [1,2]. Sie sollten durch sogenannte „arische“, möglichst nationalsozialistisch gesinnte „Jungärzte“ ersetzt werden [1]. Nach 1934 wurden auch verheiratete Hausärztinnen, deren Ehemänner die Familie allein ernähren konnten, sowie jene, die mit jüdischen Menschen verheiratet waren, sukzessive von einer Tätigkeit in der Kassenarztpraxis ausgeschlossen [1]. Die ärztliche Standesvertretung spielte bei dieser Verdrängung eine maßgebliche Rolle. Praktische Ärzt*innen profitierten von der Verfolgung ihrer Kolleg*innen durch freiwerdende Kassensitze, Praxis – und Wohnungseinrichtungen, die zu Schleuderpreisen verfügbar waren [3]. Zwischen 1933 und 1945 wurden sowohl in der ambulanten Versorgung als auch an Universitäten jüdische Ärztinnen und Ärzte systematisch ausgegrenzt, vertrieben, verfolgt und ermordet [3,4]. An diese Menschen möchte das gemeinsame Projekt „Das leere Sprechzimmer“ der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) und des Berliner Instituts für Allgemeinmedizin erinnern. Im Verlauf zukünftiger Kongresse werden weitere Themenschwerpunkte, wie bspw. der Ausschluss von Patient*innen, bearbeitet.
Ursprünglich als Installation auf der WONCA Europe Konferenz 2020 geplant, wurde das Erinnerungsprojekt 2021 in einen Film umgewidmet, gefördert von der Stiftung Charité und mit Unterstützung des GeDenkOrt.Charité durch TITANFILM realisiert. Auf der Basis des Tagebuches der Berliner Ärztin Hertha Nathorff, der medizinhistorischen Arbeiten von PD Dr. phil. Rebecca Schwoch (Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Hamburg), Dr. phil. Judith Hahn (Medizinhistorisches Museum, Berlin) und der wissenschaftlichen Beratung durch Florian Bruns (Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Halle/S.) konzipierte Sandra Blumenthal das Drehbuch für die Produktion von sechs Kurzfilmen. Neben Mitarbeiter*innen des Berliner Instituts waren die engagierten Schauspieler*innen der DESAM-Nachwuchsakademie Melanie Wolf, Anna Teegelbekkers und Meinert Ehm das Herzstück dieser Filme und gaben den Personen ihr Gesicht und ihre Stimme. Mario Spiegel (TITANFILM) und sein Team steuerten wichtige Impulse zur künstlerischen Umsetzung bei.
Auf dem DEGAM Kongress in Lübeck (16.-18.09.2021) wurden die Filme erstmalig gezeigt. Wir bedanken uns bei Jost Steinhäuser und der Kongressleitung des DEGAM-Kongresses 2021 aus dem Lübecker Institut für Allgemeinmedizin für den Raum, den wir auf dem Kongress hatten und auch für ihren Wunsch nach einer visuellen Darstellung des „Leeren Sprechzimmers“ auf ihrem Kongress. Wir möchten Sie herzlich einladen, sich das Produkt dieses intensiven und interdisziplinären Austausches anzusehen.
Literatur:
- Hahn J, Schwoch R. Anpassung und Ausschaltung. Die Berliner Kassenärztliche Vereinigung im Nationalsozialismus. Berlin: Hentrich & Hentrich, 2009.
- Gerst T. Vor 80 Jahren: Ausschluss jüdischer Ärzte aus der Kassenpraxis. Dtsch Arztebl 2013; 110(16): A-770 / B-671 / C-671.
- Schwoch R. Jüdische Ärzte als Krankenbehandler in Berlin zwischen 1938 und 1945. Frankfurt am Main: Mabuse Verlag, 2018.
- Schwoch R (Hrsg.) Berliner jüdische Kassenärzte und ihr Schicksal im Nationalsozialismus. Ein Gedenkbuch. Berlin und Teetz: Hentrich & Hentrich Verlag, 2009.
- Nathorff H. Das Tagebuch der Hertha Nathorff. Berlin – New York. Aufzeichnungen von 1933 bis 1945. Herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Benz. Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 1989.